- Literaturnobelpreis 1988: Nagib Mahfus
- Literaturnobelpreis 1988: Nagib MahfusDer Ägypter erhielt den Nobelpreis als »Wegbereiter neuer sozialkritischer ägyptischer Erzählkunst zwischen Tradition und Moderne«.Nagib Mahfus, * Kairo 11. 12. 1911; Studium der Philosophie in Kairo, 1936-39 Arbeit als Journalist, ab 1972 als Beamter der ägyptischen Kulturbürokratie; schrieb knapp 30 Romane, zahlreiche Kurzgeschichten, Zeitungsartikel, Drehbücher und Bühnenstücke.Würdigung der preisgekrönten LeistungMit dem Ägypter Nagib Mahfus wurde ein Autor geehrt, der in der arabischen Welt, wo er als bedeutendster Erzähler des 20. Jahrhunderts galt, bereits Millionen von Lesern gefunden hatte. Dagegen war Mahfus in der übrigen Welt beinahe unbekannt. Die westliche Presse behalf sich mit dem Titel: »Dickens von Kairo«, was Mahfus' literarisches Spektrum zwar ungerechterweise reduziert, aber insofern treffend ist, als die Werke, die ihn in der arabischen Welt berühmt gemacht haben, zweifellos in der realistischen Erzähltradition des 19. Jahrhunderts stehen und Mahfus als arabischen Nachfolger von Honoré de Balzac, Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Thomas Mann (Nobelpreis 1929) und Marcel Proust ausweisen. Die arabische Literatur besitzt zwar eine reichhaltige Erzähltradition, die spezifische Gattung des Romans, wie sie im Europa des 18. Jahrhunderts entstanden ist, wurde in der arabischen Welt aber erst im 20. Jahrhundert angenommen.Mahfus, der seine Heimatstadt und Ägypten kaum je verlassen hat, verbrachte seine Kindheit in den älteren, volkstümlichen Bezirken Kairos. Dort spielen auch die meisten seiner Geschichten. Die Welt von Mahfus' Romanen ist die der gebildeten Kairoer Mittelschicht von Regierungsbeamten und Journalisten, die ihm vertraut ist. Doch vor dem Hintergrund dieser eng umgrenzten Gesellschaft fährt Mahfus das gesamte Panorama menschlichen Glücks und Unglücks auf.Eine Gesellschaft im UmbruchMahfus' schrifstellerische Laufbahn begann mit drei historischen Romanen über das pharaonische Ägypten, dessen gesamte Geschichte er in einer umfassenden Serie abhandeln wollte. Diesen Plan gab er jedoch auf, um sich der Gegenwart zuzuwenden; eine glückliche Entscheidung, denn die innere Zerrissenheit des modernen Ägypten erwies sich als idealer Rahmen für Mahfus' meisterliche Darstellungen individueller Charaktere. Das traditionelle Ägypten, dessen Säulen die Familie, die Religion und die osmanische Verwaltung waren, war im 20. Jahrhundert einem kräftigen Modernisierungsdruck ausgesetzt, der die Gesellschaft spaltete. Eine akademisch gebildete Funktionselite entstand, die die patriarchalische Ordnung in Familie und Politik in Frage stellte, moderne Wissenschaft und Technik übernahm, nach individuellen Wegen zum persönlichen Glück suchte und das Deutungsmonopol der religiösen Führer bestritt. Diese Vorgänge hatten auch Auswirkung auf Mahfus' Schriftstellerkarriere. So wurde er in mehreren arabischen Staaten mit einem Publikationsverbot belegt, weil er das Camp-David-Friedensabkommen mit Israel von 1978 unterstützt hatte. Bereits 1959 war er mit dem Roman »Kinder unseres Viertels« ins Visier radikaler Islamisten geraten. Darin treten Christus, der Prophet Mohammed und Gott in allegorischer und damit aus streng religiöser Sicht in unorthodoxer Form auf. 1989 riefen islamische Fundamentalisten zur Ermordung von Mahfus auf. 1994 wurde der an Diabetes leidende, beinahe blinde Greis bei einem Attentat schwer verletzt.Unter den Romanen aus Mahfus' zweiter Schaffensperiode ist vor allem »Die Midaq-Gasse« (1947) bekannt geworden, eine farbige Schilderung des Mikrokosmos eines Kairoer Altstadtviertels. Dieses Buch wurde als eines der ersten — noch vor 1988 — in europäische Sprachen übersetzt. Den Höhepunkt seiner »realistischen« Erzählkunst markiert die Kairoer Trilogie, die zwischen 1956 und 1957 erschien, aber bereits vor 1952 abgeschlossen war. Die drei Romane (»Zwischen den Palästen«, »Palast der Sehnsucht«, »Die Zuckergasse«) erzählen die Geschichte der Kaufmannsfamilie Abd al-Gawwad zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg. Zu Beginn von »Zwischen den Palästen« schildert Mahfus auf 100 Seiten einen Tag im Leben der Familie. Die Darstellung des jüngsten Sohns, Kamal, trägt autobiografische Züge. Achmed Abd al-Gawwad führt das Haus im herrischen Stil eines gottgleichen »pater familias«, während er außer Haus als verbindlicher Gesprächs- und Geschäftspartner, freizügiger Gastgeber und verwegener Liebhaber von Damen zweifelhaften Rufs zu glänzen weiß. Doch mit der Zeit bekommt die so wohl geordnete Welt seines Doppellebens Risse und damit auch die Familienordnung, die gottgegebene Schicksalsgemeinschaft und kollektiver Körper ist, der die Individuen bindet. Der Rhythmus der ewig gleichen Tagesabläufe verliert seine zwingende Kraft. Die Kairoer Trilogie brachte Mahfus 1957 den ägyptischen Staatspreis für Literatur ein und begründete seinen Ruhm in der arabischen Welt. Sie hat arabische Kritiker nicht nur durch die klassische Eleganz des Stils überzeugt, sie gilt auch als wichtiges Zeitzeugnis, das mangels vergleichbar präziser Dokumente über die Wandlungen, die Ägypten im 20. Jahrhundert erlebte, für jeden Historiker unverzichtbar ist.Von der realistischen zur symbolischen ErzählweiseNach Veröffentlichung der Trilogie gab Mahfus die realistische Erzählweise zugunsten einer symbolischen auf — vielleicht weil die politischen Verhältnisse des Nasser-Regimes eine Verschlüsselung von gesellschaftlichen und politischen Aussagen in literarischer Form ratsam erscheinen ließen. Aus dieser Zeit ist besonders der Roman »Der Dieb und die Hunde« (1961) berühmt geworden. Eine Kriminalgeschichte und eine psychologische Studie um Schuld und Sühne, die die Verunsicherung und die Atmosphäre der Bedrohung in dieser Zeit einfängt. Inzwischen experimentierte Mahfus auch mit den neuen Erzähltechniken, die der Roman im Lauf des 20. Jahrhundert entwickelt hatte, zum Beispiel wechselnde Erzählperspektiven und innerer Monolog. »Das Hausboot am Nil« (1966) ist ein Desillusionsroman um einige Intellektuelle, die eine abgeschlossene Sondergesellschaft nach dem Vorbild von Giovanni Boccaccios »Decamerone« oder Thomas Manns »Zauberberg« bilden. Nicht wenige der Texte aus dieser Zeit zeigen eine beunruhigende, aus den Fugen geratene, beinahe kafkaeske Welt und Menschen, denen das Maß für sinnvolles Handeln abhanden gekommen ist. Seit den 1970er-Jahren bemüht sich Mahfus darum, die traditionelle orientalische Erzählkunst mit den Errungenschaften der literarischen Moderne zu einer eigenständigen Form arabischen Erzählens im 20. Jahrhundert zu verbinden.J. Zwick
Universal-Lexikon. 2012.